Fall 2 – ALS (Amyotrophe Lateralsklerose)
Dies ist ein Fall aus meiner Anfangszeit (1991), einen ALS-Patienten, den ich über Jahre begleitet habe. Hierüber habe ich auch auf meiner Facebook-Seite berichtet (siehe dort). Ich möchte hier nur die ersten Mittelverordnungen beschreiben. Dabei möchte ich auch gerade auf Fehler bei der Beschreibung hinweisen.
Herr H., 52 Jahre alt, kam im Frühjahr 1991 zu mir: In den letzten Monaten sei es zu einer Schwäche im rechten Fuß gekommen, die ihn beim Gehen zunehmend hinderlich sei. Bei der klinischen Untersuchung fand sich auch eine Fußheberschwäche des rechten Fußes. Der Gang war unsicher. Ebenfalls fand sich eine Schwäche der rechten Hand (Daumen-Kleinfinger-Griff unvollständig). In der Uni-Klinik wurde die Diagnose ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) gestellt.
Aus jetzt nicht mehr nachvollziehbaren Gründen erfolgte die homöopathische Erstanamnese erst ca. 4 Monate später.
Erstanamnese im August 2019:
Herr H. hatte immer gerne im Fußballverein in der Seniorenmannschaft gespielt. Vor ca. 3 Jahren sei er dann häufiger mit dem re. Bein weggeknickt. Er habe dann erst mal eine Trainingspause eingelegt, aber die Schwäche wurde nicht besser. Im Gegenteil, es entwickelte sich eine Fußheberschwäche, die letztendlich dann neurologisch abgeklärt wurde. (Erst später wurde dann letztendlich die Diagnose ALS gestellt). Jetzt sind mittlerweile beide Beine betroffen.
Morgens beim Aufstehen lässt er zunächst ein paar Minuten die Beine baumeln. Dann kann er zunächst ganz gut Gehen, aber so nach einer Stunde wird es wieder zunehmend schlechter.
Als klinische Befunde hatte ich mir notiert: Fußheberschwäche, rechts mehr als links; Kraftminderung re. Hand, leichte Ptosis (Herabfallen der Augenlider).
Sonstige Beschwerden:
Wadenkrämpfe nachts
Verdauungsbeschwerden: Hatte vor Jahren mal mehrfach Ulcera duodeni (Zwölffingerdarmgeschwüre), jetzt immer noch Blähungsgefühl nach dem Essen, schlimmer, wenn etwas auf den Bauch drückt (z. B. enger Gürtel). Mag gerne Deftiges, sehr gerne Milch, gerne Süßigkeiten. Alkohol verträgt er schlecht; dies scheint auch die Lähmungsschwäche zu verstärken.
Stuhlgang: Hier ist auffällig, dass er regelmäßig morgens um kurz nach 6 Uhr („kann die Uhr danach stellen) Stuhlgang hat. Er muss deshalb früh aufstehen.
Rückenschmerzen, immer wieder mal in den letzten Jahren, schlimmer, wenn er sich bückt.
Bewegt sich gerne, ist gerne an der frischen Luft. Warmes Wetter, überhaupt Wärme liebt er.
Gemüt: Ist in allem sehr genau, möchte alles immer schnell und gut zu Ende bringen. Perfektionist. Kann auch aufbrausend und schnell gereizt sein (sagt die Ehefrau). Im Urlaub wird er schnell unruhig, will dann lieber wieder nach Hause um liegengebliebene Dinge zu erledigen. Ehefrau: pedantisch, Pünktlichkeit ist ihm sehr wichtig.
Schlaf: unruhig. Sprechen im Schlaf (laut Ehefrau), Träume von Verfolgung.
Ängste: um die Gesundheit, Höhenangst, „Lampenfieber“. Furcht vor Hunden (schlechte Erfahrung gemacht).
Damalige Repertorisation (Synthesis, Version 4.0):
Ich habe mich, obwohl an 9. Stelle stehend, für Conium entschieden, insbesondere weil ich die Symptome: „Besserung durch Hängenlassen der Beine“ und „aufsteigende Lähmungen“ als charakteristisch für Conium in Erinnerung hatte.
Verordnung: Conium C12, 1×5 Glob. über 10 Tage
Reaktion: keine Veränderung, weder psychisch noch körperlich
Einige Zeit später verordnete ich: Arsenicum alb. LM12, Tropfen, 1×5 morgens über zwei Wochen. Denn dies Mittel war in der Repertorisation ja schließlich vorne.
Auch darauf reagierte der Patient nicht. Ich weiß heute nicht mehr genau, ob ich noch weitere Mittel „ausprobiert“ habe. Der Start war jedenfalls misslungen.
- Fehler:
- Bei solchen Krankheitsbildern rennt einen die Zeit davon. Die Anamnese hätte eher erfolgen sollen.
- Charakteristische Symptome sind vor allem diejenigen, die man unabhängig von der Grundkrankheit, nicht unbedingt erwartet: z. B. Lähmungen an sich treten bei ALS immer auf, charakterisieren die Krankheit, aber nicht den individuellen Fall. Daher sind die Symptome wie „Schwäche im Fuß und Bein“ zu unspezifisch. Die „Angst um die eigene Gesundheit“ ist ja wohl bei einer solchen Krankheit auch logisch. (Das war echt blöd von mir, so was in die Repertorisation einzubeziehen). „Aufsteigende Lähmungen“ ist auch nicht so ganz klar, schließlich hat er ja auch schon früh eine Schwäche in der Hand. Außerdem hatte er nicht unbedingt eine Abneigung gegen Alkohol, sondern eher eine Unverträglichkeit. Was den Patienten noch einigermaßen charakterisiert: „Peinlich in Kleinigkeiten“, die Rubrik für Genauigkeit, Pingeligkeit.
- Auffällig wären – aus heutiger Sicht — eher gewesen:
- Die rechte Seite (rechter Fuß, rechte Hand) ist eher betroffen
- Lähmungen (allgemein): natürlich muss das im Mittelbild vorkommen
- Genauigkeit, Pingeligkeit
- Stuhldrang morgens
- Höhenangst
- Verlangen Bewegung
- Sprechen im Schlaf
- Unverträglichkeit Alkohol
- Bauchbeschwerden, schlimmer durch Druck
Fazit: Das war eine dilettantische Repertorisation, die eben auch nicht zum Ziel geführt hat.
Wobei auch immer der Abgleich mit der Materia Medica wichtig und entscheidend ist. Den hatte ich damals auch nicht durchgeführt.
Obwohl ich auch heute die Anamnese anders führe – daher nicht unbedingt vergleichbar -, hätte ich heute eher so repertorisiert:
Ich habe damals auch noch einmal andere Symptome hinzugenommen, auch wieder – aus heutiger Sicht – viel zu viele synonyme Symptome und Lokalsymptome, aber ich bin dennoch auf ein gutes Mittel gekommen:
Lycopodium C200.
Häufig ist übrigens nicht das erste Mittel in der Rangfolge das richtige Mittel. Hier war es letztlich das Arzneimittelbild von Lycopodium, was einen Fokus bei Bauchbeschwerden hat (Ulcus duodeni, empfindlicher Magen etc.) und auch die Rechtsseitigkeit des Mittels, sowie die Charaktereigenschaft „Genauigkeit“.
Nach der Mittelgabe von Lycopodium C200 ging es dem Patienten jedenfalls deutlich besser. Sogar die Fußheberschwäche und das Gangbild besserte sich, wenn auch nur für einige Zeit (immerhin einige Monate). Dann schritt die Krankheit fort. Ich habe ihm noch einige andere homöopathische Mittel gegeben und auch andere Therapien (Akupunktur etc.) genutzt, so dass der Patient überdurchschnittlich lange für einen ALS-Patienten lebte. Hätte ich damals vielleicht ein gutes „Anschlussmittel“ gefunden, wäre der Fall möglicherweise anders verlaufen. Aber damals überstieg das meine Möglichkeiten.
Mein Fazit: Auch – oder gerade – in schweren Fällen, kann die Homöopathie Erfolge verbuchen.