Medizinische Diagnose bzw. Behandlungsanlass:
Patient mit chronischen Rückenschmerzen, insbesondere LWS-Syndrom mit mäßig ausgeprägter Spinalkanalstenose.
Kasuistik
Der 51 ‑jährige normalgewichtige Patient, Herr S. ist bereits seit vielen Jahren bei mir in hausärztlicher Behandlung. Anfangs kam er hauptsächlich wegen Rückenschmerzen, insbesondere HWS- und BWS-Beschwerden, die ich meistens gut chirotherapeutisch behandeln konnte. Er arbeitet als Vermessungstechniker, d.h. hauptsächlich Büro-und Bildschirmarbeit, aber auch Auswärtstermine mit Geschäftsleuten.
Vor ca. 3 Jahren kamen weitere Gelenkbeschwerden hinzu: Schulterschmerzen rechts, HWS-Schulter-Nacken-Beschwerden mit Ausstrahlung in die rechte Hand (Kribbelparästhesien). Dann auch Hüftschmerzen. Er war auch in orthopädischer Behandlung, was bislang allerdings nicht zu einer Besserung der Beschwerden führte.
Besserung durch Dehnen und Strecken und auch durch Wärme. Eine eindeutige Bewegungsmodalität besteht nicht. In der Vergangenheit hatte er immer gerne Sport gemacht, sogar eine chinesische Kampfsportart. Er schwitzt eher viel. Nahrungsmodalitäten: keine charakteristischen Vorlieben oder Abneigungen zu eruieren.
Damals brachte die Verordnung von Acidum muriaticum C200 eine Besserung der Schulterschmerzen. Jedoch wurden die Rückenschmerzen wieder schlimmer.
In den nächsten zwei Jahren ist er in orthopädischer Behandlung, im Verlauf werden MRTs (= Magnetresonanztomographie, Kernspin) angefertigt: BSV (Bandscheibenvorfall) in der Brustwirbelsäule Th5|7, LWS (Lendenwirbelsäule): LWK 4|5 BSV mit Pseudospondylolisthesis (= Wirbelgleiten, Segmentverschiebung), leichte Spinalkanalstenose (Wirbelkanalenge). HWS BSV HWK 5|6 re.. Durchgehende Behandlung durch Orthopäden, einschließlich PRT (Periradikuläre Therapie = Spritzen an die Wirbelsäule unter Röntgen-Kontrolle). Zudem wurde ein Karpaltunnel-Syndrom festgestellt, hier wurden Cortisonspritzen verabreicht. NSAR-Einnahme (Ibuprofen) über ein Jahr. Zuletzt dann langsame Besserung, geht auch wieder arbeiten, Restbeschwerden: Schmerzen im rechten Bein, insbesondere nach längerer Gehstrecke.
Homöopathische Anamnese:
Vor 8 Monaten erfolgte erneut eine ausführliche homöopathische Anamnese:
Hauptbeschwerde: Leichte Schmerzen und Taubheitsgefühl im rechten Bein, vor allem aber eine Schwäche im re. Bein, was aber erst nach längerer Gehstrecke (500 m) auftritt. Dann beginnt der Schmerz am re. Fuß und zieht dann im Ischiasverlauf hoch nach oben bis in die Hüfte (aber nicht immer konstant, sondern auch wechselnde Beschwerden). Das Bein wird ihm schwer und irgendwie wie festgeklebt. Er muss sich dann kurz ausruhen und kann dann weitergehen. Auch Dehnen des Beines (Schneidersitzposition) bessert; ebenso Massieren. Diese typische Claudicatio-Symptomatik spricht natürlich für eine LWS Spinalkanalstenose (Enge des Nervenkanals), das neu angefertigte MRT zeigt auch deutliche degenerative Veränderungen, allerdings zum Glück keine operationsbedürftige Spinalkanalstenose. Das Bein wird zunehmend kraftlos beim Gehen. Er möchte sich aber eigentlich bewegen, ist bedrückt, weil er z. B. keinen Sport mehr machen kann. In Ruhe hat er keine Beschwerden. Wärme bessert (z. B. beim Urlaub auf Kreta konnte er sich besser belasten). Er wäre schon zufrieden, wenn er wieder einen Kilometer weit gehen könnte.
Die Anamnese gestaltet sich etwas zäh, da der Patient sehr abschweifend und umständlich erzählt (Dabei fällt auf, dass er immer wieder ohne triftigen Grund im Redefluss lacht). Er erzählt etwas fahrig, aber sehr ausführlich über seine Arbeit, die ihm sehr wichtig ist. An seinen Aufgaben „beißt er sich fest“, will sie unbedingt zu Ende bringen. Er schildert sich vom Charakter her als beharrlich, zurückhaltend.
Analyse, Repertorisation und Mittelfindung:
Analyse Sankaran:
- Pflanze
- Empfindung:
Pflanzenfamilie | Empfinden | Passive Reaktion | Aktive Reaktion | Kompensierung |
Hamamelidae | Zusammen-gedrückt. Schwer. Drückend. Belastung. Begrenzt. Schleppend. Festgemacht. Eingesperrt. Gegenteil: Leichtigkeit, Fliegen. | Dumpfheit, Stumpfheit der Sinne. Geerdet, am Boden, alle Bewegungen kommen zum Stillstand. Neigung sich hinzulegen. Rast, Ausruhen bringen Besserung. Abneigung gegen Bewegung. Gelähmt. Deprimiert, Traurigkeit. | Fliegen. Schweben. Frische Luft bringt Besserung. Bewegung bringt Besserung. | Passt sich an, auf eng begrenztem Raum zu leben. |
- Miasma: „Bin mit wenigem zufrieden“, keine großen Veränderungen = Sykose
Repertorisation (RADAR Synthesis 10)
Mittelwahl:
Cannabis indigo C200
Materia Medica – Abgleich
Hier einige Passagen aus J. T. Kent: Homöopathische Arzneimittelbilder (Haug-Verlag):
Indischer Hanf (Cannabis indica)
Ein eigenartiges ekstatisches Gefühl durchdringt den Körper und die Sinne. Gliedmaßen und andere Körperteile erscheinen vergrößert. Ein Schauder der Glückseligkeit durchläuft die Glieder. Die Glieder zittern. Der ganze Körper wird von großer Schwäche befallen. Katalepsieähnliche Symptome. Empfindungslosigkeit der Haut und Ausfall der Tiefensensibilität. Die Beschwerden werden allgemein durch Ruhe gebessert. Exaltierte Stimmung mit großer Fröhlichkeit. ……. Zusammenhangloses Reden. Jammern und Weinen. Lacht und weint durch den geringsten Anlass. Lacht selbst über ernst gemeinte Bemerkungen. Anfallsweises Ausbrechen in Gelächter. Sehr zum Scherzen aufgelegt. …….. Große Traurigkeit. ……. Allgemein bessern sich die psychischen Symptome durch Gehen im Freien, während für die Schwächezustände des Mittels eher das Gegenteil zutrifft: Ihm schwinden im Freien die Sinne, und er fällt zu Boden. ….. Sein Kopf ist voller unfertiger Ideen und Phantasiegebilde. Ständig produziert sein Gehirn neue, großartige Theorien. Außerordentliche Redseligkeit. Er hat seinen Geist nicht so weit unter Kontrolle, dass er rational über eine Sache nachdenken kann……….Lähmige Schwäche bis hin zu völliger Lähmung der Gliedmaßen, besonders der Beine. ……… Taubheitsgefühl der linken Fußsohle, dann des Fußes und schließlich des ganzen Beins. ….
Verlauf, Follow up:
Follow up nach ca. weiteren 6 Wochen:
Ist ernsthafter geworden. Altes Symptom kommt zurück: Schulter-Nacken-Schmerz rechts. Ist aktiver, kümmert sich um seine Gesundheit. Macht REHA-Sport.
Follow up nach ca. weiteren 6 Wochen:
Deutliche Besserung, kann wieder über 2,5 km gehen! Viel gefasster, geordneter in seinen Gedankengängen.
Bislang keine Rückfall, ist weitgehend beschwerdefrei.
Fazit:
Hier sieht man sehr schön, dass die Verordnung nach bewährter Indikation (Bryonia, Ruta o.ä.) nichts gebracht hätte. Gerade ein Mittel, wo man bei dieser Indikation wohl nicht so schnell dran denken würde, nämlich Cannabis indica, bringt hier den Erfolg. Und noch eins: Natürlich ist Cannabis indica (homöopathisch) jetzt nicht das universelle Heilmittel für “Spinalkanalstenose”. Nur wenn die individuellen Charakteristika beachtet werden, “der ganze Fall betrachtet wird”, dann wird das Mittel als “Simile” helfen können.
Copyright Dr. Karsten Karad 2020