Kasuistik F04
Erstkonsultation: Herr K. war im Juli 2019 erstmalig in meiner Sprechstunde: Der 66järhige Patient kommt mit folgenden Beschwerden:
Seit ca. 7 Jahren klagte er zunächst über Beschwerden der Fingergelenke: li. Arm, Finger D 3 + D 4 mit Steifigkeit, konnte die Finger nicht mehr spreizen. Danach traten auch zunehmend Kniebeschwerden auf, schlimmer beim Treppe runter gehen (D: Chondropathia patellae); danach auch Hüftbeschwerden rechts. Rückenschmerzen, wechselhaft, schlimmer nachts, schlimmer nach längerem Gehen. Unsicherheit, wenn er auf dem re. Bein steht.
Diagnosen:
- Lumbago (Lumbosakralbereich) = Chronische Rückenschmerzen
- Lumbaler Bandscheibenvorfall, mehrere Segmente
- Spinalkanalstenose LWS (Verengung des Wirbel-Nervenkanals mit Druck auf die Nervenbahnen)
- Chrondropathia patellae bds. (V.a Gonarthrose) (= Knorpelschaden unter der Kniescheibe und Kniegelenkarthrose)
Fachärztliche Befunde:
Fremdbefund
Orthopädischer Befundbericht wie auch der MRT-Befund (Kernspin-Befund) vom Januar 2019 stellt folgende Diagnose: Bandscheibenvorfall Lendenwirbelsäule Segment LW3/4 und LW4/5. Progrediente (=zunehmende) BS-Prolaps auch auf Höhe LW4/5 m. progr. u. jetzt hochgr. Spinalkanalstenose. (bei Vergleich mit Vorbefund von 2016).
Die orthopädische Behandlung wurde wegen unbefriedigendem Behandlungserfolg ausgesetzt.
Homöopathische Erstanamnese
Die homöopathische Erstanamnese erfolgt im Oktober 2019 (Auszüge):
66jähriger, leicht adipöser, freundlicher Patient. Im Ausland aufgewachsen, seit ca. 45 Jahren bereits in Deutschland.
Hauptbeschwerde sind seine Rückenschmerzen, die nach längerem Gehen oder vor allem auch beim längeren Stehen auftreten. Gehstrecke: ca. 300 m. Gelenkbeschwerden allgemein bestehen schon länger. Vor ca. 3 Jahren traten verstärkt Kribbelparästhesien und auch Krämpfe in den Fingern auf. Danach hatte er verstärkt Schmerzen in den Knien, vor allem im linken Knie. Schlimmer beim Treppensteigen, vor allem trepprunter. Drei Monate später begannen die Rückenschmerzen, Ausstrahlung eher ins rechte Bein. Schmerzcharakter: brennende Schmerzen. Modalitäten: Schmerzen nach längerem Stehen (ausgeprägt), leichte Bewegung – Gehen — bessert zunächst. Er geht gerne Spazieren, aber in den letzten Monaten muss er nach kurzer Zeit öfters stehenbleiben bzw. sich hinsetzen. Wärme tut ihm gut; lindert die Beschwerden. Besserung auch durch Beugen nach vorne, Besserung durch Anwinkeln des re. Beines. Zudem besteht auch schon seit längerem eine Unsicherheit beim Stehen auf dem rechten Bein, „Gefühl, wegzuknicken“.
Selbstcharakterisierung:
Hilfsbereit, gutmütig, „kann nicht nein sagen“. Verreist sehr gerne, ist auch aus beruflichen Gründen (Maschinen-Verkauf) viel im Ausland unterwegs. Bedauert etwas, dass er jetzt, wo er berentet ist, nicht mehr so viel Reisen unternehmen kann.
Er war immer wissbegierig, wollte immer „seinen Horizont erweitern“.
Kopf-Fuß-Schema:
(keine Charakteristika). Speisen: Verlangen nach Fleisch. Abneigung: uncharakteristisch. Durst: eher viel. Hände: trocken, warm.
Allgemeines:
Wärme bessert Beschwerden, aber frieren tut er nicht (Modalität nicht sehr ausgeprägt). Schwitzen: eher viel.
Repertorisation und Mittelfindung:
Charakteristische Symptome:
Rubriken:
- Rücken — Schmerz — Lumbosakralregion — Stehen agg.
- Rücken — Schmerz — Lumbalregion — Stehen, beim — agg.
- Rücken — Schmerz — Strecken, beim — amel.
- Allgemeines — Strecken, Ausstrecken — amel.
- Allgemeines — Wärme — amel.
- Allgemeines — Bewegung — amel.
- Extremitäten — Unsicherheit der Gelenke — Beine
- Gemüt — Neugierig
- Gemüt — Milde
- Gemüt — Liebevoll, voller Zuneigung, herzlich
- Extremitäten — Schmerz — Beine — brennend
- Gemüt — Reisen — Verlangen nach
- Gemüt — Antworten – langsam
Repertorisation:
Oktober 2019: Phosphorus C200, verkleppert
Analyse:
Tatsächlich bildet Phosphorus hier auch die psychische Verfassung, die „Geist- und Gemütsverfassung“ wie die körperlichen Symptome gut ab.
Materia Medica – Abgleich
Hier einige Passagen aus J. T. Kent: Homöopathische Arzneimittelbilder (Haug-Verlag):
Phosphorus:
……. Ein wichtiges Phosphorus-Merkmal ist Steifheit: Steifheit zu Beginn der Bewegung; rheumatische Steifheit sämtlicher Gliedmaßen, besonders am Morgen. Phosphorus hat viel ziehende und reißende Schmerzen in den Extremitäten; Ziehen und Reißen in den vom Rheumatismus befallenen Teilen. Phosphorus-Beschwerden, zumal solche rheumatischer Art, werden gewöhnlich durch kühle Witterung verstärkt. Der Patient ist, allgemein gesehen, kälteempfindlich; seine Beschwerden verschlimmern sich durch Kälte und kalte Anwendungen, sie bessern sich durch Wärme und heiße Umschläge – ausgenommen die Beschwerden von Kopf und Magen, die durch Kälte gelindert werden……. Das Mittel hat viele Rückensymptome. Steifigkeit im Rücken, besonders im Nacken, zwischen den Schultern und im Kreuz. Steifheit beim Aufstehen vom Sitzen. »Gefühl von intensiver Hitze, den Rücken hinauflaufend.« Hitzegefühl und Brennen an einzelnen Stellen der Wirbelsäule. ……. Rückenmarksaffektionen; Entzündungen des Rückenmarks. Spinalirritation mit Schwäche der Gliedmaßen………..»Kraftlosigkeit in allen Gliedern, besonders in den Gelenken, wie gelähmt …« Myelitis. Rückenmarkserweichung. Progressive Spinalparalyse. Phosphorus hat sich bei lokomotorischer Ataxie als hilfreich erwiesen; …. Lähmungsartige Schwäche oder auch Lähmung von Armen und Beinen, oft in Verbindung mit Taubheitsempfindungen und Zittern…… Müdigkeit in den Beinen. Große Schwäche in den Beinen, besonders beim Gehen. Unsicherer, stolpernder oder zittriger Gang. [Gang so unsicher, dass sie bei jedem Schritt zu fallen glaubte.
Verlauf, Follow up:
Ca. 4 Wochen später: Pat. kommt zur Folgeanamnese. Nach der Mitteleinnahme von Phosphorus C200 ist es bereits zu einer Besserung der Symptome gekommen. Rückenschmerzen fast vollständig abgeklungen!
Ca. 3 Monate später: Pat. kommt zur hom. Therapie-Verlaufskontrolle, deutliche Besserung, Z. Z. keine Beschwerden. // Rechtes Bein: Brennen im Schienbein hat aufgehört. Knie auch besser. Lediglich LWS noch leichte Restbeschwerden.
Therapie: Mittel wird in der C200 als einmalige Gabe wiederholt.
Ca. 6 Monate später: Patient kann wieder längere Gehstrecken über mehre Kilometer bewältigen. Nur noch selten leichte Rückenschmerzen.
Fazit:
Trotz kritischem radiologischem Vorbefund, sind oft noch erstaunliche Besserungen möglich. In diesem Fall konnte jedenfalls – bis auf Weiteres – eine Operation verhindert werden.
Anmerkung unter Kasuistik 03 finden Sie ebenfalls einen Fall mit Spinalkanalstenose und ähnlicher Symptomatik (Claudicatio intermittens). Er brauchte jedoch ein anderes Mittel. Auch hier sieht man wieder: Es gibt nicht „das Mittel für Spinalkanalstenose“, sondern die individuelle Symptomatik muss abgedeckt sein.
Copyrhight Dr. Karsten Karad 2020